Das Archiv der Mobilen Akademie Berlin beginnt im Jahre 2005/06 in Warschau. Die ersten Tonaufzeichnungen dokumentierten die Zusammenkunft von 100 polnischen Intellektuellen, die im ersten Jahr der Kaczynski Regierung im Rahmen eines “Schwarzmarkts” zur Thematik des „Unsichtbaren, vergessenen und verlorenen Wissens“ sprachen. Seither wurden die Projekte der MAB, die nur an ein bis drei Tagen zur Aufführung kommen, in vierzehn verschiedenen Ländern aufgezeichnet und dem Archiv hinzugefügt. Es finden sich neben den Einträgen aus 27 Schwarzmärkten und Lizenz-Schwarzmärkten zwischen 2004 und 2020 noch weitere 16 Projekte, deren Sprechakte ins Archiv eingingen. Das Archiv bietet die Gespräche immer in der Originalsprache der Life-Aufzeichnung an. Hauptsprachen sind deutsch (722 Gespräche) und englisch (231 Gespräche), daneben gibt es weitere elf Sprachen: finnisch (36), russisch (34), polnisch (33), hebräisch (29), französisch (28), lettisch (28), schwyzerdütsch (11), portugiesisch (9), italienisch (1), hindi (1), spanisch(40)

Foucault beschreibt die Entscheidungsbefugnis des Archivs darüber, welche Geschichte und Geschichten öffentlich werden und welche vergraben bleiben, als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“. Man könnte vielleicht sagen, dass das MAB Archiv zeigt, welches Wissen „im Akt der Kommunikation wie gesagt werden kann“. Jedem Eintrag ins Archiv geht ein Life-Event voraus. Fast alles Gesagte im MAB Archiv entstand im Dialog, sei es zwischen Expert*innen und einer unbekannten Person aus dem Publikum, sei es in einem kuratierten Gespräch zwischen zwei Expert*innen. Das Gesprächsformat ist hierbei nicht Vortrag oder Interview, sondern die Verhandlung der angebotenen Wissenserzählung. Oder wie es Dirk Baecker beschreibt, der wiederholt den Experten gab: „wenn Niklas Luhmanns Vermutung stimmt, dass Wissenschaft in jeder Gesellschaft davon lebt, dass sie das Wissen als erlebt und nicht als gemacht vorzuführen vermag, dann erlebt man auf dem „Schwarzmarkt“, dass und wie sehr dies Erleben selbst ein Handeln ist. Man muss sich das Wissen erhandeln, wenn man es behaupten will. Und man muss es sich erhandeln, wenn man es übernehmen will.“ Sich dieser Situation zu stellen, sich in ihr zu behaupten, erfordert, die gesicherten Bezirke des eigenen Expertentums zu verlassen und sich in den Raum zu begeben, der sich zwischen beiden Gesprächspartnern aufmacht. In diesem Wagnis brechen sich Missverständnisse, Fehlleistungen, Banalitäten und Privates Bahn, die ebenso beobachtet und aufgezeichnet werden wie alle gelungenen Ausweise eines spezifischen Expertentums. Die Aufzeichnungen werden zwar technisch bearbeitet, aber nicht editiert. Die Tondokumente speichern nicht nur Stand und Inhalt eines jeweiligen Wissens (und die Möglichkeiten seiner Vermittlung) sondern auch deren historisch und individuell-kontingent bedingte Settings, die Summen des jeweilig Sagbaren und Nicht-Sagbaren. Sie ähneln ethnografischen Tonaufzeichnungen – eine Ethnografie der Diskurskulturen unserer Gegenwart. Für spätere Nutzer dürften die akzidentiellen Gehalte der aufgezeichneten Gespräche von genauso großem Interesse sein wie das intentional zur Sprache gebrachte Wissen.

Das MAB Archiv erforscht unterschiedliche Themen aktueller Kultur- und Theorieproduktionen und deren gesellschaftliche, technische und materielle Grundlagen. Dazu sammelt das MAB-Archiv die Erzählungen und Perspektiven von Experten aus den Geistes- und Naturwissenschaften, aus unterschiedlichsten beruflichen Praxen, aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Alltag. Die Konfiguration der Experten gibt hier Einblicke in die Gestalt eines Themas, – wo lag und  liegt es im Diskurs, in welchen Bezügen, Netzwerken, Aktionsformen fand es statt, was hätte daraus werden können, wer kopiert, forscht und verfolgt das Thema? Man muss für diese Sammlung die Kategorie der Kontingenz bemühen: nicht unbedingt notwendig, aber auch nicht ausgeschlossen was darin Eingang findet. Im MAB Archiv zeigt sich die Morphologie gesellschaftlicher Diskurse. Die Themen betreffen zentrale Fragen der Gegenwart und deren gesellschaftspolitische, sozialwissenschaftliche und philosophische Konnotationen: Life Sciences und die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Technik, Humanismus / Post-Humanismus, anthropologische und religiöse Grundfragen wie die nach Tod, Ewigkeit, Schuld/Scham, Schweigen/Stille.

Es gibt keine allgemeine archivarische Strategie, das MAB Archiv reagiert auf lokale Nützlichkeit und situatives Interesse. Es finden nur jene Themen Eingang ins Archiv, die an einem jeweiligen Ort zur Zeit der Aufzeichnung im lokalen Diskurs auffindbar waren.

Mit dem Begriff des Archivs ist sowohl Institution wie Konzeption, ein konkreter Arbeitsort wie eine Methode assoziiert. Braucht ein digital zugängliches Archiv überhaupt noch einen Raum? Das MAB Archiv ist außerhalb institutioneller Strukturen entstanden, unterstützt nur von kurzfristigen lokalen Alliancen. Vielleicht ist es nicht so sehr die Frage eines konkreten Raums, die hier wichtig ist, aber doch der Wunsch nach einem Ort der sichtbaren Anwendung, der Zugehörigkeit zu einem thematischen Feld. Ein definiertes Benutzer*innen-Interesse, das sich von der Anonymität des Netzes absetzt. Der Wunsch hat sich 2015 erfüllt, – das Audio-Archiv ist angebunden an das Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

Der Bestand ist nach dem im Archivwesen üblichen Pertinenzprinzip nach Themen und Personen systematisiert. Jedes Gespräch wird mit einer kurzen, deutschen oder englischen Zusammenfassung angekündigt, so dass es möglich ist, sich über dessen Inhalt zu informieren, auch wenn man der Sprache der Aufzeichnung nicht mächtig ist. Eine kurze CV des Experten, räumliche Verortung im jeweiligen Projekt (z.B die Tischnummer) und kritische Kommentare der Archivverwalter vervollständigen die Administration. Kommentarebene: hier erlaubt sich der Archivar aus dem Hintergrund mit Frechheiten, Spötteleien oder Schwärmereien das Gespräch zu kommentieren. Die Kommentare der Archivare werden weder zensuriert noch lektoriert.

Der Datenbestand des MAB-Archivs, d.h. die Audiodateien aller aufgezeichneten Gespräche (und gegebenenfalls auch Videodateien) können bei einem Cloud Computing Anbieter gespeichert und abrufbar gemacht werden. Sie bilden den Kernbestand, der über das Backend der Archivwebsite laufend upgedated werden kann. Zwischen diesem Bestand und dem Frontend ist eine relationale Datenbank geschaltet, die sich ihre Stichworte aus den Kurzbeschreibungstexten der Gespräche sowie aus den Titeln, Themen und Namen der beteiligten Personen sucht und individuelle Suchabfragen ermöglicht. Interessant wäre nach einem akustischen Indexsystem zu forschen, ein sound retrieval für die Audiodateien – aber soweit ist es noch nicht.

Im Laufe der Jahre haben 28 verschiedene Personen im Archiv geschrieben und gearbeitet. Stil und Haltung der Einträge sind entsprechend unterschiedlich. Hauptarchivarin seit 2015 ist Cristina Navarro, die Tonbearbeitungen macht Lukas Grundmann.

Archivarbeiter*innen:
Stefan Aue, Berlin; Nataša Petrešin Bachelez, Paris; Claudia Basrawi, Berlin; Sladja Blazan, Berlin; Romana Bund, Wien; Geoffrey Garrison, Berlin; Robert Hartmann, Berlin; Angela Heide, Wien; Franz Hempel, Leipzig; Carolin Hochleichter, Berlin; Hannah Hurtzig, Berlin; Pirkko Husemann, Bremen; Marian Kaiser, Berlin; Kira Kirsch, Wien; Alexander Klose, Berlin; Sarah Lewis, Los Angeles; Agra Lieģe, Riga; Anja Lindner, Berlin; Johanna Linsley, London; Cristina Lleras, Bogotá; Felipe Marinelli, Berlin; Alexander Martos, Wien; Astrid Matron, Berlin; Cristina Navarro, Berlin; Laurens Otto, Paris; Stefanie Peter, Nowosibirsk; Claus Philipp, Wien; Barbara Piwowarska, Warschau; Isabella Rjeille, Sao Paulo; Adriana Roque, Bogotá; Evi Scheller, Wien; Martina Scherler, Bern; Philipp Schmidt, Berlin; Daniela Schöler, Berlin; Nicolas Siepen, Berlin; Sophia Stepf, Berlin; Sandra Teitge, Washington; Sasa Vojin Vukadinovic, Berlin; Laura Weber, Berlin; Siegmar Zacharias, Berlin/Bukarest