Krankheit wird erlitten, ignoriert, administriert, bebildert und idealisiert. Sie dient als Zeichen und Metapher: Krebs, Aids, die Dichterkrankheit Tuberkulose, die den Körper transparent macht, und neuerdings Demenz als Synonym für das Verdrängen von Naziverbrechen einer Generation. Nicht alle Krankheiten eignen sich jedoch für eine ästhetische Aufladung: Wofür soll Arthrose stehen oder Diabetes? Die Lesart von Krankheit als Strafe Gottes ist in unserer Zeit aus der Mode gekommen (auch wenn sie für Aids noch einmal bemüht wurde) – es bleibt die Frage, welche Krankheiten die Gesellschaft erst erzeugt, welche sie benennt, erkennt, welche in die Sprachlosigkeit verdrängt werden. Und welche Normalität, welche Gesundheit (in hygienefetischistischen Zeiten) sind gefordert, wenn Rauchen, Essen, Trinken plötzlich nicht mehr zum Menschenbild passen?
Eine inszenierte Konferenz über die doppelte Staatsbürgerschaft der Krankheit.
Details
Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Pass zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher
Krankheit ist ein Begriff, um einen Zustand der Normabweichung zu bezeichnen; und was die Norm ist, unterliegt Moden und Notwendigkeiten. Wie verändert sich also der Krankheitsbegriff mit der Transformation der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft? Wie verhält sich die Definition von Krankheit zur jeweilig gesellschaftlich propagierten Definition des Fremden?
Krankheit wuchert innerlich oder sie ist eine Invasion von außen. Sie ist ein Zustand des anderen, des Unverstandenen, eine Parallelwelt mitten im Leben. Und auch wenn die Welt der Gesunden und die Welt der Kranken grundsätzlich voneinander getrennt sind, sind wir doch Teil von beiden – dass wir die Seite wechseln müssen, hinüber zu jenem „anderen Ort“, von dem Susan Sontag in ihrem berühmten Essay schreibt, das mögen wir verdrängen, aber können es nicht vergessen.
Traditionell ist für die Umwertung von Krankheit, für die positive Besetzung der Zersetzung, des Morbiden und Abweichenden, die Kunst zuständig. Zusammen mit bestimmten Formen des Aktivismus hat sie emphatische Traditionen geschaffen, die Krankheit als Anlass für Erkenntnisgewinn feiern, eine Sprache des Körpers entdecken, oder seine Vergeistigung durch Leiden loben, das Anderssein preist und Kunst damit selbst in ihrer gesellschaftlichen Außenseiterposition spiegeln kann. Doch heute ist der Künstler nicht mehr Außenseiter der Gesellschaft, er ist als neoliberales Subjekt zum Leitmodell integriert – und damit hat die Krankheit ihren leidenschaftlichen Fürsprecher verloren. Gesundheit und ständige Optimierung der Lebensqualität sind der Fetisch unserer Zeit. Das subversive Potenzial des Kranken ist verschwunden. Wer sind wir als Patient?
Historie
1977 veranstaltete die Steirische Akademie den legendären Kongress „Utopie Gesundheit“ mit Elisabeth Kuebler-Ross, die mit ihrem Vortrag zur Sterbehilfe einen wichtigen Anstoß für die Entwicklung der Hospizbewegung in der Steiermark gab. Der Psychotherapeut und Mediziner Hans Strotzka verhalf zu neuen Überlegungen in der Sozialpsychatrie rund um das erste Kriseninterventionszentrum am Grazer Griesplatz und Ivan Illich sprach über Selbsthilfe und Eigenverantwortung des Patienten: Ich bezeichne die Medikalisierung der Gesellschaft als eine dreifache Drohung: Die Gastfreundschaft für den Andersartigen wird durch die therapieorientierte Diagnostik bedroht, die Leidenskunst durch das Versprechen der Schmerztilgung untergraben und die Kunst des Sterbens durch den Kampf gegen den Tod überlagert. Der Patient knüpfte thematisch an den historischen Kongress an und brachte Medizinhistoriker, Kultur- und Pflegewissenschaftler, Künstler, Ärzte und Patienten zusammen, um der Frage nachzugehen, welche Rolle Krankheit als permanent präsente zweite Welt inmitten der ersten Welt der Gesundheit heute spielt: als Realität und als Metapher, als Entwicklungslinie, als Lebens- und Möglichkeitsform.
Vortragende:
Barbara Duden (D): Disparate Welten. Vom Abgrund zwischen Patientenerzählungen und Diagnose;
Josef Smolle (A): Kompetenz und Fragmentierung. Das Krankenhaus zwischen Möglichkeit und Zweck;
Christian Fazekas (A): Der Patient als Partner. Gesprächsführung und Partizipation in der medizinischen Ausbildung;
Harald Haynert (D): Ethik als nicht exklusiver Schutzbereich. Über Pflege, Anerkennung und Bedürftigkeit;
Hermes Phettberg (A) im Gespräch mit Claus Philipp (A): Krankheit als Haltung;
Daniel Tyradellis (D): Fachchinesisch und Liebesgeflüster. Zur Professionalisierung des Kranken;
Bernd Kräftner (A): Das Syndrom als Schiff. Ein künstlerisches Diagnosedispositiv;
Céline Kaiser (D): Therapie-Szenen. Fallgeschichten der Theatrotherapie
Filme:
Aya Ben Ron (IL): Shift (2009-2011, 29 min);
Marcus Coates (GB): The Trip (2010, 35 min);
Florian Riegel (D): Holding Still (2010, 26 min)
Tischgespräche:
In kleineren Arbeitsgruppen finden Gespräche zum spezifischen Berufsfeld der Experten und Expertinnen statt. Mit: Harald Haynert (D), Karl Harnoncourt (A), Céline Kaiser (D), Eveline Kerecz (A), Bernd Kräftner (A), Gustav Mittelbach (A) & Rainer Possert (A).
Credits
Kuratiert von Hannah Hurtzig und Florian Malzacher
Assistenz: Johanna Rainer
Produktionsleitung: Markus Boxler
Dank an das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Graz, insbesondere Franz Rainer und Günther Weber sowie Magda Copony, Barbara Gronau, Sera Isak, Sabine Janouschek, Lore Offenmüller & Hermann Toplak
Eine Produktion des steirischen herbst, Graz