Wenn Geschichten aufgeschrieben werden, verwandeln sie sich in Texte. Texte können gelesen und in Umlauf gebracht, aber auch verboten, verbrannt, verloren oder schlicht vergessen werden. Werden aber die Geschichten von Menschen bewahrt und erinnert, ist es schwieriger, ihre Verbreitung zu unterdrücken. Es bedarf lediglich eines Erzählers, der sich an etwas erinnert und einer Zuhörerschaft, die sich in einem bestimmten Raum um diesen Erzähler versammelt, um zurückzuholen, was ausgelöscht, geschwärzt, versteckt oder nie geschrieben wurde. Gespräche aus der Dunkelkammer stellte einen Apparat zur Verfügung, der diesen Prozess in Gang setzte. Die Protagonisten des Apparats waren Geschichtenerzähler, Experten verschiedener Wissensgebiete aus Nowosibirsk, sowie Theoretiker und Künstler aus St. Petersburg, Moskau und Berlin. Der Apparat bestand aus fünf Stationen: der WARTESAAL mit einer Einführung in die Farbe Schwarz; die KÜCHE mit Klatsch und Tratsch über Piotr Pavlenski und Wodka aus dem Benzinkanister, das BERATUNGSBÜRO zu Theorie und Praxis der Selbstzensur; das STUDIO mit einer live Aufzeichnung zensierter Pavlenski Texte als Schattenspiel und im KINO wurde der Film „Zensur ist die Mutter der Metapher” mit Lawrence Liang gezeigt. Alle Stationen arbeiteten gleichzeitig. Das Publikum konnte sich durch den Apparat bewegen wie durch eine Ausstellung. Schauplatz der Installation war das leer stehende Dachgeschoß eines luxuriösen Modekaufhauses im Zentrum von Nowosibirsk.
Gespraeche aus der Dunkelkammer
- Lukse, Novosibirsk
- Essay / Installation
Ein Apparat zur Animation verlorener und geschwärzter Texte. Tonaufnahmen im Audio Archiv:35 (RU)
Details
Der Apparat reanimierte zwei Texte:
In der Nacht des 24. Februar 1852 verbrannte Nikolaj Wassiljewitsch Gogol den zweiten Band seines Romans Tote Seelen. Nur Fragmente haben diesen berühmten Akt der Selbstzensur überlebt. Das Fegefeuer – wie der zweite Teil betitelt war – ist der zentrale Text, der im Dunkelkammer-Apparat reanimiert und im Kontext unserer Gegenwart interpretiert wurde. Was müssen wir wissen, wenn wir den zweiten Teil „Das Purgatorium“ weiterschreiben wollen? Der Apparat verlängerte drei zentrale Motive des verlorengegangenen Textes in die heutige Zeit: 1. Das Finanzsystem: Tschitschikoff war der erste russischer Broker, der mit Werten handelte, die keinen Gegenwert besaßen. Wie lässt sich im Vergleich dazu das heutige Kreditwesen beschreiben, und zwar auf lokaler und globaler Ebene? 2. Die toten Seelen: Tote spielen im Roman eine bedeutende Rolle für die Lebenden. Wie geht unsere Gesellschaft mit der Grenze zwischen Leben und Tod um? 3. Der Reisebericht: Tote Seelen sind ein Roadmovie, eine angewandte Ethnographie. Wie erleben heutige Entdecker in Forschung, Wissenschaft und Kunst ihre Reisen in unbekannte Gegenden? Für jedes Motiv haben wir eine Reihe von Expert*innen aus Nowosibirsk eingeladen, um die aktuelle Bedeutung von Gogols Themen zu erörtern.
Der Künstler, über den 2016 jeder in Russland redete, war Piotr Pavlenski. Es scheint, als wären die Debatten, Prozesse, Gerüchte und Berichte, die ihn begleiteten, bekannter als seine Kunst. Oder besteht Pavlenskis Kunst eben darin, was sie auslöst und nicht darin, was sie zeigt? In den Reaktionen der Behörden, der Leute, der Bürokratie, der Zeitungen, der Politik und der Kunstwelt? Vielleicht ist der Klatsch und Tratsch um Piotr Pavlenski das wesentliche. Der Filmtheoretiker Marc Siegel erkennt im Gossip einen halböffentlichen Diskurs, eine subversive Form des Wissens, das durch die Sprecher und Gespräche zirkuliert und ein informelles Informationsnetzwerk herstellt. Der traditionelle russische Ort, um offen zu sprechen, wild zu spekulieren, große Behauptungen und kleine Geschichten zu verbreiten, ist die Küche, dort wurde dem Gossip Raum gegeben. Expert*innen unterhielten sich bei Tee und Wodka über Piotr Pavlenskis Leben und Werk. Und die Nowosibirsker Schauspieler Wladimir Lemeschonok und Lawrentij Sorokin probten die Verhörprotokolle zwischen einem Ermittler und Pavlenski in einem Filmstudio.
Protagonist*innen
DIE ARENA. Das Purgatorium, Nikolaj Wassiljewitsch Gogol
Runde 1 – Road Movie
Andrey Dubovoy, Neurochirurg, Neurozentrum des Gesundheitsministeriums der Russischen Föderation
Irina Oktyabrskaya, Professorin für Ethnographie, Staatliche Universität Nowosibirsk
Boris Travkin, Filmemacher, Kameramann, Reisender, Leiter von ‘Novosibirskkinovideoprokat’
Irina Yakunina, Fotografin, Reisende
Pavel Golovkin, Zuhörer
Runde 2– Kreditsystem
Dmitry Choljavchenko, Historiker, Anlageberater und Aktivist
Sergey Dyachkov, Unternehmer, Politiker, Berater
Olga Valieva, Forschungsleiterin, Institut für Ökonomie und Wirtschaftsingenieurwesen der Russischen Akademie der Wissenschaften
Irina Demchuk, Bankerin, Generaldirektorin der Nowosibirsker Abteilung der Bank “Otkrytie”
Runde 3 – Die Toten und die Untoten
Sergey Yakushin,Geschäftsmann, Direktor des Nowosibirsker Krematoriums und des Museums für Sepulchralkultur
Oxana Timofeeva, Philosophin, Dozentin, Mitglied des Künstlerkollektivs “Chto delat?”
Alexander Chernyavsky, Professor, Herzchirurg und Transplantologe, Meschalkin-Institut
Igor Chubarov, Philosoph, Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften
Arena Team
Floor Manager: Marian Kaiser; Hostessen: Aleksandra Rud, Anna Umrihina, Ekaterina Kozlovksaya, Daria Andreeva, Ksenia Zhukova, Luchia Postike, Maria Zykova, Olga Obrezanova, Olga Kusnetzova, Alexey Grishenko
DIE KÜCHE. Gespräche und Gossip über Piotr Pavlenski
Gastgeber*innen
Konstantin Skotnikov, Künstler, Künstlerkollektiv „Blues Noses”
Oxana Timofeeva, Philosophin, Dozentin, Mitglied des Künstlerkollektivs „Chto delat?”
Wladimir Velminski, Medientheoretiker, Berlin
Küchen-Gäste
Konstantin Antonov, Journalist und Soziologe
Philipp Krukinov, Künstler, Kurator
Majana Nasybullova, Künstlerin, Designerin, Materialexpertin
Natalia Pinus, Politikerin, Aktivistin
Lada Yurchenko, PR-Managerin, Festival- und Event-Organisatorin
Lob des Klatschs: Marc Siegel (nur als Text anwesend)
DAS STUDIO – Die Verhörprotokolle
Schauspieler
Vladimir Lemeshonok, Schauspieler und Regisseur
Lavrenty Sorokin, Schauspieler und Regisseur
Team: Philipp Hochleichter, Kamera; Hannah Hurtzig, Regie; Marina Nikiforova, script girl
DAS BÜRO – Beratung für den Fall der Selbstzensur
Domanov, Forschungsgruppenleiter am Institut für Philosophie und Recht der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften
Denis Sablin, Psychoanalytiker und ehemaliger Theaterregisseur
DAS KINO: “Zensur ist die Mutter der Metapher”
Protagonist*innen:: Lawrence Liang, Dorothee Wenner, Prashant Iyengar
Regie: Hannah Hurtzig; Kamera: Johannes Funk; Ton: Tito Knapp; Schnitt: Eric Menard; Simultanübersetzung: Irina Bondas; Recherche und Produktion: Arnika Ahldag
DER WARTESAAL – Einführung
Schauspielerin: Yanina Tretyakova
Performer: Olga Leonidovna
Credits
Konzept und Raum: Hannah Hurtzig
Konzept- und Skriptentwicklung: Marian Kaiser
Bühnenbild: Florian Stirnemann
MAB Management: Philipp Hochleichter
Team Novosibirsk
Leitung Goethe-Institut: Stefanie Peter
Projektmanagement: Mikhail Kazantsev
Co-Kuratorin und Programmkoordinatorin: Julia Churilova
Übersetzung und Dolmetschen: Nadja Orekhova
Inspizientin: Olga Karaseva
Bühnenbildassistenz: Victoria Ivleva
PR und Medienkontakte: Elena Nosova
Vorproduktion: Anna Morozova
Website: Alexandra Golubeva
Projektassistentin: Natalia Trukhacheva
Grafikdesign: Timur Zima
Videodokumentation: Vitaly Valishevsky und Roman Ivanyutenko, AVI
Fotos: Alexej Ziller
Script girl: Marina Nikiforova
Bühne & Veranstaltungstechnik: Alexey Bulgakov und Mikhail Ovchinnikov, Elkruff
Ton: Sergey Schlamus, Elkruff
Maske: Elena Khabarova
Übersetzung und Dolmetschen: Svyatoslav Gorodetsky, Valeria Kolodina, Oleg Nikiforov, Tatiana Padve, Andrey Romankov, Aleksandr Selesnev
Hostessen: Aleksandra Rud, Anna Umrihina, Ekaterina Kozlovksaya, Daria Andreeva, Ksenia Zhukova, Luchia Postike, Maria Zykova, Olga Obrezanova, Olga Kusnetzova, Alexey Grishenko
Großen Dank an: Vladimir Alekseev, Vera Alievna, Aleksander Bakaev, Daniel Barber, Tatyana Barchunova, Alice Chauchat, Alina Chernenko, Nikolaj Wassilijewitsch Gogol, Maryana Golova, Olga Grebenyuk & Timur Sattarov, Ralph und Stefan Heidenreich, Tamara Kazantseva, Sergey Konyshev, Tom Lamberty und Merve Verlag, Aleksey Mazur, Pjotr Pawlenskij, Sergey Samoilenko, Jury Schatin, Nadezhda Oynotkinova, Olga Rebkovets, Dzhamil Rzaev, Evgeny Solomin, Wladimir Velminski, Denis Yurkovets, Andrej Zhdanov
Infopartner: Restaurant #SIBIRSIBIR, Reiseagentur „Olympia-Reisen-Sibir”, Webportal tayga.info, Online-Magazin sib.fm, Sibirisches Transportfernsehen, Zeitschrift «Status», Zeitschrift „Sobaka.ru„Zeitschrift „Dorogoe udovolstvie-Novosibirsk“, Online-Magazin VOLNA, Zeitschrift „Stil“, Online-Magazin Siburbia.ru
Eine Produktion der Mobilen Akademie Berlin in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Nowosibirsk