Die Nachtlektion Nr. 1 war der erste und einzige Lehrfilm einer geplanten Serie von weiteren 100, der sich als Bildungsangebot an nächtliche Passanten, an die schwankenden Gestalten der Nacht wenden: Schlaflose und Unermüdliche, Schichtarbeiter, die Dame die den Hund ausführt und den Nyktophobiker. Die Filme werden auf im Stadtbild vorhandene ‘Leinwände’ projiziert: stumme Fassaden, leere Flächen an Hauswänden und Mauern, unsichtbare Orte, die man meist nicht sieht oder liest, sondern an denen man schnell vorbeigeht. Man hört die Lektionen mit Kopfhörern. Der Film-Parcour wird in einem Viertel der jeweiligen Stadt installiert, als Menetekel und Palimpsest, der in einem geisterhaften Rhythmus erscheint und verschwindet und das Protokoll der Nacht verändert. Verschiedene Filmemacher inszenieren die Auslegungen, Lesarten, Kommentare, Enträtselungen zur zeitgenössischen Philosophie, die den Studierenden – also den Nachtgestalten – einen Zugang zu instabilen und überschießenden Wissensformen eröffnen, um neue Probleme für existierenden Lösungen zu finden.
Es muß stetig gehandelt werden. Das Zaudern aber „begleitet den Imperativ des Handelns und der Bewerkstelligung wie ein Schatten, wie ein ruinöser Gegenspieler”. Wer zaudert, stellt das Handeln in Frage. Video 71´
Details
Die erste Nachtlektion widmete sich Zuständen des Zauderns, des Schwankens und des Innehaltens. Der deutsche Philosoph und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl thematisiert das Zaudern als einen Schatten des Handelns, der mehr ist als Stillstand der Bewegung: Das Innehalten und Zögern macht Zeit- und Geschichtserfahrung erst möglich und es stimuliert damit wesentlich den Möglichkeitssinn.
Zauderthemen, die im Film angesprochen werden:
Stotterer und Stolperer.
Die Aktionsallergie.
Raserei & Amoklauf.
Die Befreiung von systemimmanentem Wahn.
Das Rätsel Wallenstein.
Der Gelegenheitsapparat.
Die pedantische und phantastische Genauigkeit.
Zur Logik und Artistik der Auswege.
Das Ende des Systems.
Über das Zaudern, Joseph Vogl 2007:
„Das Zaudern scheint wie ein verschollenes Thema oder ein Anathema eine seltsam verwischte Spur zu ziehen, die überall dort scharf und prägnant wird, wo sich – in einer langen abendländischen Geschichte – eine Kultur der Tat und eine Kultur des Werks brechen und reflektieren. Das Zaudern begleitet den Imperativ des Handelns und der Bewerkstelligung wie ein Schatten, wie ein ruinöser Gegenspieler; und man könnte hier von einer Zauder-Funktion sprechen: Wo Taten sich manifestieren und wo Handlungsketten sich organisieren, wird ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten eine Unterbrechung markiert. Damit hat sich zugleich ein asymmetrisches Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte eingestellt. Sofern nämlich Handeln nach Nietzsche sich im Vergessen vollzieht und zugleich Geschichte hervorbringt, so durchbricht sein Schatten, das Zaudern ebendiese Geschichte; es tritt aus deren Zusammenhang heraus, um eine spezifische Erinnerung zu beschwören: ein Gedächtnis des Nicht-Gewesenen, die Erinnerung an ein Vergangenes, das niemals Gegenwart war, eine Vorerinnerung an jene Handlungen und Aktionen, die nicht oder noch nicht geschehen werden.“
„Das lenkt aber zugleich den Blick auf eine andere, aktive Seite des Zauderns, die sich von allen Trägheitssubstraten entfernt. Und diese zweite Seite umschließt eine idiosynkratische Genauigkeit, eine Idiosynkrasie gegen die Festigkeit von Weltlagen gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen gegen die Bestimmtheit von Konsequenzen, gegen die Dauer von Gesetzmäßigkeiten und das Gewicht von Resultaten; und ein begründetes Misstrauen gegen heilsgeschichtliche Aufschwünge jeder Art. Das Zaudern ersucht um Revision. In ihm artikuliert sich ein komplizierter Sinn, der weniger Antworten zu den Fragen und die Lösungen zu den Problemen sucht, sondern unterstellt, dass in den gegebenen Antworten und Lösungen unerledigte Fragen und Probleme weiterhin insistieren. Man ist von Lösungen umstellt und findet die dazugehörigen Probleme nicht unbedingt. Das Zaudern hegt einen Komplexitätsverdacht; es folgt einer Arithmetik, die vom Hundertsten ins Tausendste geht. Es mag Linearität und die Einförmigkeit der Welt nicht oder nur schwer ertragen: “Nun ist aber die Welt bekanntlich ungemein mannigfaltig, was jederzeit nachzuprüfen ist, indem man eine handvoll Welt nimmt und sie näher ansieht.“ (Franz Kafka)
Joseph Vogl (Literaturwissenschaflter und Philosoph an der Humboldt-Universität Berlin) hat Gilles Deleuze und Michel Foucault übersetzt. Er hat über die kleine Literatur Kafkas (der im Sanatorium von Hartungen in Riva del Garda einen seiner vielen aufschiebenden Aufenthalte verbrachte), über die großflächige Anlage von Goethes Poetik, über die Farbe Gelb, über den ökonomischen Menschen und zuletzt über das Zaudern nachgedacht und geschrieben.
Credits
Filminstallation ( 30 Min., 25 Min., 15 Min., 01 Min.)
Konzept: Hannah Hurtzig und Karin Harrasser
Film: Chris Kondek
Simultan-Übersetzung: Carola Dinklage
Tonaufnahmen: Kassian Troyer (Berlin), Günther Friesinger (Wien)
Dank an Barbara Gronau, Philipp Hochleichter, Lucia Iacomella, Andreas Müller, Nico Siepen.
Ein Projekt der Mobile Akademie für die manifesta7, Trento 2008, Kuratoren: Anselm Franke und Hila Peleg