In der modernen westlichen Gesellschaft sind der Status, der Aufenthaltsort und die Bedeutung der Toten in der Welt der Lebenden zunehmend unklar geworden. Erschwerend kommt hinzu, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit heutzutage einseitig auf der Todesbewältigung durch die Lebenden liegt – vergessen wird, dass der sich verändernde gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod auch die Toten erfasst. Hier ist ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von Lebenden und Toten notwendig, eine Perspektive der Toten muss vertreten werden, gefordert wird ein verbessertes gesellschaftliches, kulturelles und politisches Milieu für die Toten in der Welt der Lebenden.
Seit 2010 forscht die Mobilen Akademie Berlin an uneindeutigen Lebendigkeiten, über die prekären Zonen zwischen Leben und Tod und zum Milieu der Toten.
Vertretung der Toten
Wir möchten drei wichtige Voraussetzungen für eine Vertretung und Repräsentation der Toten hervorheben:
Wir definieren die Toten als Future Us und symmetrisch dazu die Lebendigen (aus der Sicht der Toten) als Former Them. Diese implizierte Übergängigkeit läuft Identitätsdenken und Identity Politics entgegen, es wird keine Identitätspolitik im Namen der Toten betrieben.
Die Anwaltschaft und Repräsentation der Toten bezieht sich auf „unsere“ Seite, den Ort der Toten in der Welt der Lebenden. Wir haben nicht die Macht ins Totenreich hineinzuregieren.
Die Toten werden nicht als das substantiell Andere der Noch-Lebendigen verstanden, oder als unwissbar aus dem Zuständigkeitsbereich der Wissenschaften entlassen – hier gilt es neue Formen des Denkens und Wissens zu erproben, die bessere Erforschung der Toten betrifft daher die Grundlagen der Forschung selbst.
Unsere Anwaltschaft und Repräsentation für die Toten hat zum Ziel, einen umfassenden Perspektivwechsel zu initiieren. Hierzu fordern wir im Folgenden:
1. Wir brauchen eine veränderte ästhetische Praxeologie des Sterbens und des Daseins der Toten: Durch welche ästhetischen Darstellungsformen weisen wir Toten die Totenrolle zu? In welche Bilder fangen wir Gestorbene ein? Was wird heute als Spur der Toten betrachtet und ästhetisch gewürdigt?
2. Es bedarf einer reflexiven, neuen Mediatisierung und Kommunikation des Totseins: Wie halten die Lebenden ihre Beziehungen zu den Toten aufrecht? Wird Trauerarbeit dazu genutzt, die Toten verschwinden zu lassen? Wie gehen wir mit dem Schweigen der Gestorbenen um? Gibt es zu viel oder zu wenig Kommunikation mit Toten?
3. Wir fordern ein neues Verständnis der Kapital- und Zeitökonomien der Toten: Gibt es im Tot-Sein Werte? In welcher Zeit befinden sich die Toten? In der Ewigkeit oder doch in einer Form von verlaufender (und damit auch mit den Lebendigen synchronisierbarer) Zeit? Haben die Toten unendlich viel Zeit? Oder gibt es doch eine Art von befristeter Zeit (platonisch)? Wie definieren sich die uns bekannten Wartesituationen, Limbus und Fegefeuer aus Sicht der Toten? Gibt es ein Gedächtnis der Toten, haben sie ihre ganz eigene ars memoriae?
Wir verstehen unseren Repräsentationsauftrag als eminent politisch. Der massenhaften Sichtbarkeit der medialen Toten steht ein gesellschaftlicher Verlust an differenzierten Erfahrungen im Umgang mit den Toten selbst gegenüber. Dieses Defizit gilt es zu beheben, ein Umdenken ist gefordert. Wir zitieren an dieser Stelle Heiner Müller, einen der großen Totenliebhaber: „Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.“
Die Projekte
Seit 2009 interessierten uns die Lebenswissenschaften, insbesondere die verletzlichen Zuständen zwischen Leben und Tod und auch ihre popkulturellen Repräsentanten, wie die schlurfenden hungrigen Zombies. Es folgten mehrere Versuche über den Tod, bis wir auf die Toten trafen und seither systematische Verwandtschaftsforschung betreiben.
Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen zum Thema SUPER-HUMANS, TRANS-HUMAN, POST-HUMAN: DIE KUNST DES BESSER-WERDENS, Theater Freiburg und Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, 2009
Der Kongress DIE UNTOTEN. Life Science & Pulp Fiction konfrontierte die Forschungen der Biotechnologie, Medizinethik und Transplantationsmedizin mit den Bildwelten der Popkultur Kulturstiftung des Bundes, Hamburg, 2011 http://www.untot.info
Im Rahmen der Ausstellung Unruhe der Form inszenierten wir wissenschaftliche Gespräche zur Frage: Wo ist der Ort für jene, die nicht mehr da sind, aber weiterhin Bedürfnisse und Forderungen an die Lebenden haben? DAS MILIEU DER TOTEN. DER ENTWURF, Seccession, Wiener Festwochen 2013
In einer diskursive Installation SCHNITTSTELLEN, GERÄTSCHAFTEN, HIRNBILDER wurden die Forschungsvorhaben des Freiburger Universitäts-Cluster BrainLinks-BrainTools vorgestellt und konfrontiert mit einer Kulturgeschichte zur Metapher des Gehirns, Universität Freiburg, 2013 http://www.cerebromatik.uni-freiburg.de
DIE SCHNITTSTELLEN- UND ADAPTERPROBLEMATIK untersuchte die mathematischen Visionen der Mensch-Maschinen-Welt des Bauhauses, aufgeführt: Mensch-Raum-Maschine, Ausstellung am Bauhaus Dessau, 2013
Der Schwarzmarkt in Lettland dokumentierte das Thema: DER REPARIERTE, VERBESSERTE UND TOTE KÖRPER. 100 Expert*innen referierten zu den Errungenschaften der Gehirn- und Transplantationsmedizin und der technischen Erweiterbarkeit des menschlichen Körpers, wie auch zu lettischer Beerdigungs- und Bestattungskultur, Kulturhauptstadt Riga 2014
Die Installation ÜBUNGEN FÜR DIE LETZTE MINUTE präsentierte Expert*innen aus Biologie, Philosophie, Religionswissenschaft, Forensik, Soziologie und Medizin, die zu philosophische Theorien und wissenschaftlichen Spekulationen des Todeszeitpunkts sprachen, innerhalb der Ausstellung INSERT 2014, Raqs Media Collective und Max Mueller Bhavan, Delhi, Indien.
AT THE TABLE – Narratives on the Technological, the Imagined, and the Dead Body war eine dialogische Installation in 5 Akten, die forensische, therapeutische, chirurgische und schamanistische Erzählungen über den Körper präsentierte, Goethe Institut Sao Paulo, Brasilien, 2015
EINE ÖKOLOGIE DER TOTEN, Videoinstallation, 47′. Docu-Fiction mit der Philosophin Vinciane Despret und ihrem 2016 erschienenen Buch „Au bonheur des morts. Récits de ceux qui restent“, La Biennale du Lyon, 2015/16
DAS MILIEU DER TOTEN
Teil 1: Der Antrag, Wissenschaftstheater, Silent green Berlin 2017
Teil 2: Die Leerstelle. Das Nachleben der Sklaverei und die Lücken in den Archiven, Elisabethkirche, Berlin, 2017
Teil 3: Der Film, 1:06:12, OmU, 2018
DIE STILLGESTELLTEN ODER SALLE DES PAS PERDUS. DAS MEER ALS TRANSITRAUM ZWISCHEN LEBEN UND TOD, Theater der Welt, Hamburg, 2017
siehe auch weitere einzelne Beiträge in: Schwarzmärkte Nr. 22 / 19 / 11 /